Bundestags-Ratifizierung des Europavertrags von Lissabon (EUV) aufschieben!
21. Apr 2008
In dem pax christi-Brief an den Bundestag heißt es weiter:Wir möchten Sie mit unseren Einwänden bitten, die Entscheidung aufzuschieben und erst dann über die Ratifizierung abzustimmen, wenn eine breite öffentliche Debatte im Dialog mit der Bevölkerung auf der Grundlage einer in jeder Amtssprache vorliegenden konsolidierten Fassung des gesamten Vertrags einschl. Protokolle und Erklärungen (als fortlaufender Text) geführt worden ist und die BürgerInnen darüber abstimmen konnten.
Entgegen den bisherigen öffentlichen Bekundungen wird die Umsetzung des EU-Vertrags von übergroßer Tragweite sein und Verfassungsänderungen in vielen Mitgliedstaaten nötig machen - auch in Deutschland war bereits ein entsprechender Gesetzentwurf Tagesordnungspunkt im Bundestag.
Der EU-Vertrag von Lissabon bekommt Verfassungsrang. Ein Großteil des 2005 abgelehnten EU-Verfassungsvertrags ist überdies in den Vertrag von Lissabon eingearbeitet worden. Mit dem Vertrag übertragen die Mitgliedstaaten die "Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Interessen der Europäischen Union" (Art. 1, Art. 46a EUV). Die Vorrangigkeit europäischen Rechts über nationales Recht wird erneut festgeschrieben (in der Zusatzerklärung Nr. 17 EUV). Außerdem wird die Union den Status einer Rechtsperson erhalten und ihr ermöglicht, internationale Verträge abzuschließen.
Besonders die Außen- und Sicherheitspolitik wird demnächst im Ministerrat entschieden. Das Europäische Parlament soll zwar unterrichtet und gehört werden, wird aber im Unterschied zu den heutigen nationalen Parlamenten keine wirksame Kontrollfunktion haben. Zudem werden die demokratischen nationalen Organe in noch größerem Maß als bisher zu ausführenden Instanzen europäischer Gesetze, Richtlinien und Verordnungen herabgesetzt (siehe auch Anlage: Basisinformation, S.2).
Dem (in Art. 1, Art. 8a, Abs. 3 EUV) formulierten Grundsatz, dass Entscheidungen so offen und bürgernah wie möglich getroffen werden sollen, widerspricht die Unverständlichkeit des Vertrags vollkommen, da er kein zusammenhängender Text ist. Es wird selbst für Sie, die Abgeordneten, die über das Vertragswerk abstimmen sollen, schwer sein, sich in dem Labyrinth von Querverweisen zurechtzufinden und letzte Klarheit in widersprüchlichen Fragen zu gewinnen.
Nach Art. 1, Art. 6, Abs.1 EUV soll die Charta der Grundrechte gleichrangig mit den anderen Vertragsteilen sein. Doch die Ausgliederung der Charta und die Tatsache, dass Großbritannien und Polen in der Anerkennung ausscheren, begünstigt ein wo mögliches Sich-Berufen auf diese Praxis der beiden Staaten auch durch andere Mitgliedstaaten und beraubt die Charta so ihres faktischen Werts. Im Gegensatz hierzu bleibt bei der Ablehnung eines jedweden anderen Teils des EU-Vertrags dem betreffenden Staat am Ende nur der Austritt aus der EU.
In Bezug auf das zweifelhafte Unterordnen der Charta unter den Wirtschaftswettbewerb (Art. 52), das unvollständige Aufnehmen der wichtigen Artikel der Menschenrechtserklärung und die Einschränkungen im EUV verweisen wir auf die beigefügte Basisinformation zum Lissabonvertrag (S.2, S.3 letzter Absatz, S.4). Was wir nicht verstehen, ist, weshalb der EUGH für die Einhaltung und Auslegung der Menschenrechte zuständig sein soll und nicht der Internationale Menschenrechtsgerichtshof.
Vertragsinhalte wie die folgenden rufen den Widerspruch der Zivilgesellschaft hervor:
die Verpflichtung zur Aufrüstung (Art. 1, Art. 28a, Abs. 3,2 EUV) und deren Organisation und Kontrolle durch die europäische Verteidigungsagentur;
die Entscheidung über die Einleitung ziviler und militärischer Missionen durch den Rat sowie
die erstmalige Rede von strategischen Zielen, die der Europäische Rat festlegt (Art. 1, Art. 10b, Abs. 1);
die Unterwerfung der öffentlichen Dienste von allgemeinem und ökonomischem Interesse unter den freien Wettbewerb (Art. 2, Art. 81-89, Zusatzprotokoll Nr. 6 EUV), d. h. faktisch die Privatisierung der öffentlichen Dienste und Hoheitsrechte in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Energie u. a. Deren Privatisierung wird aufgrund bereits schlechter Erfahrungen, z. B. in der Wasserwirtschaft, inzwischen wieder rückgängig gemacht. Im Bildungsbereich würde sie die Chancengleichheit noch weiter verhindern.
Diese Wegbereitung für Militärmissionen weltweit und für umfassende Privatisierungen läuft dem Geist eines friedfertigen und zivilen Europas zuwider.
Schließlich ermangelt der Vertrag auch weitestgehend der Möglichkeit partizipativer Politikformen, wie sie einer europäischen Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts würdig wären. Das eingeräumte Volksbegehren ist nur zur Umsetzung von Vertragsinhalten zulässig (Art. 1, Art. 8b, Abs. 4 EUV), die mehrheitliche Ablehnung eines europäischen Gesetzes ist nicht möglich.
Mit unseren Einwendungen möchten wir sie bitten, den Vertrag gründlich (quer)zu lesen und gemäß Art. 1, Art. 8a, Abs. 4 EUV "zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger ... beizutragen, die eine öffentliche Diskussion und Mitentscheidungsmöglichkeit wollen.
Mit freundlichen Grüßen
Ökumenisches Netz Württemberg
und
pax christi-Bistumsstelle Freiburg
Anlage: Basisinformation von ÖNW und Attac-EU-AG Stuttgart
Dieser Brief wurde in den letzten Tagen an alle Mitglieder des Bundestags sowie an die Medien versandt.